Wie steht es um den Frieden in Kolumbien?
Wo steht der Friedensprozess in Kolumbien gut fünf Jahre nach Friedensschluss? Was gibt Grund zur Hoffnung und wodurch wird die Gewalt weiter geschürt? Diese Fragen diskutierten ausgewählte Fachexpertinnen und -experten an der Podiumsveranstaltung «Hoffnung braucht Mut» am vergangenen Freitag im Romerosaal Luzern. Gegen 50 Leute nahmen bei dieser Hybridveranstaltung vor Ort teil, weitere rund 100 Zuschauer/-innen verfolgten die von Tom Giger, Bildungsverantwortlicher von Comundo, moderierte Veranstaltung via Livestream (hier nachschauen).
Mirjam Kalt, die sieben Jahre in Kolumbien lebte und von 2013-2020 das Landesprogramm von Comundo in den Bereichen Jugendarbeit, Friedensförderung und soziale Arbeit verantwortete, machte den Auftakt. In Bezug auf die ungleiche Verteilung von Landbesitz, die Vertreibungen und die Menschenrechtsverletzungen habe sich leider noch nicht viel verändert, gab sie zu Bedenken.
«Nach Abschluss des Friedensvertrags zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerillagruppe FARC war grosse Euphorie und Hoffnung auf eine neue Ära spürbar, die sich aber leider nicht erfüllte. Die Regierung hat viele Versprechungen nicht eingehalten.» Mirjam Kalt
Und trotz des vermeintlichen Wirtschaftsbooms hätten sich die Lebensbedingungen von grossen Teilen der Bevölkerung kaum verbessert: In vielen Gebieten werden die Menschen sich selbst überlassen, leiden unter hoher Kriminalität und haben schlechten Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und öffentlichen Dienstleistungen. Mirjam Kalt weiss wovon sie spricht: Die Partnerorganisationen und Fachleute von Comundo sind insbesondere in Regionen Kolumbiens tätig, die bis heute sehr stark unter den sozialen und gewalttätigen Konflikten leiden.
Übergangsjustiz als Knacknuss
Philipp Lustenberger, Co-Leiter des Mediationsprogramms von swisspeace, zeigte die wichtigsten Etappen der harten Friedensverhandlungen auf, die nach fast vier Jahren – am 24. August 2016 – mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags endeten. Auch die Schweiz habe eine wichtige Rolle gespielt – Philipp Lustenberger arbeitete damals als Senior Advisor für die Schweizer Botschaft: Sie war ab 2001 an der Förderung des Friedens in Kolumbien beteiligt und unterstützte den Friedensprozess in verschiedenen Bereichen.
«Ein besonders brisanter Verhandlungspunkt war neben der Frage der Landrechte und politischen Mitbestimmung die Übergangsjustiz: Einerseits war es wichtig, die begangenen Verbrechen zu bestrafen und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Gleichzeitig behinderten drohende Gefängnisstrafen das Zustandekommen des Friedensabkommens.» Philipp Lustenberger
Doch schliesslich habe man sich auf eine kreative Lösung einigen können, die sowohl die Opferrechte berücksichtigt als auch die Täter zur Verantwortung zog und ihre Freiheitsrechte einschränkte, ohne dass sie in Gefängnis mussten.
Das Potential der jungen Generation nutzen
Im Anschluss berichtete die Religionswissenschaftlerin Annina Schlatter via Liveschaltung aus Bogota von ihrer Tätigkeit als Fachperson von Comundo. Seit gut einem Jahr engagiert sie sich bei der Partnerorganisation Redprodepaz für die Stärkung der Jugendpartizipation. Angesichts der Tatsache, dass 50 Prozent der Einwohner/-innen Kolumbiens unter 30 Jahre alt sind, sei es wichtig, diese Bevölkerungsgruppe aktiv in den Friedensprozess einzubeziehen. Die Proteste des letzten Jahres hätten das Misstrauen der jungen Menschen in den Staat, der mit Polizeigewalt gegen die Protestierenden vorging, verstärkt. Allzu viele Versprechen seien von der Regierung nicht erfüllt worden – für viele eine Legitimation, wieder zu den Waffen zu greifen.
«Nun gilt es, die Energie und Kreativität der jungen Menschen zu nutzen und daraus etwas Konstruktives entstehen zu lassen.» Annina Schlatter
Annina Schlatter liess auch María Paula Díaz Guio zu Wort kommen, eine Studentin der Sozialen Arbeit, die bei Redprodepaz ein Praktikum macht. Die Kolumbianerin unterstützt junge Menschen dabei, sich mit audio-visuellen Kommunikationsmitteln Gehör zu verschaffen und auf die Politik Einfluss zu nehmen. Was ist ihre Motivation, sich für den Friedensprozess zu engagieren und was wünscht sie sich für Kolumbien?
«Vor einiger Zeit begann ich die soziale Ungleichheit und meine eigenen Privilegien zu hinterfragen. Die Erzählungen meiner Grossmutter und anderer Menschen haben mir klar gemacht, dass die Erinnerungen an die vielen Ungerechtigkeiten aufgearbeitet werden müssen.» María Paula Díaz Guio
Es sei wichtig, den Frieden nicht nur als Waffenstillstand zu sehen, sondern als Prozess, der den Dialog zwischen Kontrahenten und Menschen mit unterschiedlichen Positionen fördert. Für María Paula Díaz Guio hat der Friedensprozess viel mit Bildung und persönlicher Weiterentwicklung zu tun. Sie wünscht sich, dass es den Bürger/-innen immer besser gelingt, füreinander Verständnis und Empathie zu entwickeln und so aktiv zum Frieden beizutragen.
Eine Frage der Perspektive
Und welche Einschätzung hat Dr. Enzo Nussio, der an der ETH Zürich zu den Ursachen und Folgen von Gewalt forscht, zur Frage, ob Kolumbien auf gutem Weg ist? Das hänge auch davon ab, welche Perspektive eingenommen wird, meinte er. Die Lage habe sich in verschiedenen Bereichen verbessert. So hat die Mordrate abgenommen, das politische System sei inklusiver geworden, die Bildungschancen hätten sich verbessert und der Staat funktioniere im Allgemeinen besser als vor 30-40 Jahren, betonte er. Friedensprozesse bräuchten jedoch viel Zeit – Jahrzehnte und nicht nur fünf Jahre. Denn Kolumbien trage die Last der Vergangenheit mit sich. Praktisch jede Familie hätte guten Grund, Vergeltung und erneute Gewalttaten zu fordern.
«Es ist eine Illusion, dass sich von einem Tag auf den anderen alles verändern kann. Statt auf schnelle Veränderungen zu hoffen, geht es darum, die Erwartungen anzupassen und den Weg mit Geduld und Realismus weiterzugehen.» Enzo Nussio
Was tatsächlich Grund zur Hoffnung gibt – da waren sich die Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer einig – sind die Kreativität, Widerstandskraft, das Improvisationstalent und die grosse Lebensfreude, welche insbesondere die jungen Menschen in Kolumbien ausstrahlen, trotz aller Widrigkeiten und Herausforderungen – eine grosse Ressource und Grundlage für eine bessere gemeinsame Zukunft.
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