Im Rhythmus der Natur
Das Leben als Bäuerin oder Bauer in der Schweiz und in Nicaragua – wo liegen die Unterschiede? Mariapia Bisi und Don Luis Alfredo berichten von ihrem Alltag und dem Älterwerden.
Wie viel arbeitet ihr in euren landwirtschaftlichen Kleinbetrieben?
Don Luis Alfredo Olivera (LA): Ich arbeite eigentlich immer, jeden Tag fünf bis sechs Stunden. Manchmal plane ich leichtere Aufgaben ein, damit ich mich etwas erholen kann. Ferien machen, geht aber nicht. Ab und zu mache ich einmal einen Tag frei zum Ausruhen.
Mariapia Bisi (MB): Der Bauernberuf ist nicht einfach ein Job, er ist ein Lebensstil, der alle Aspekte des Lebens durchdringt. Ich arbeite eigentlich immer, jeden Tag des Jahres und zu jeder Jahreszeit. Land und Tiere verlangen nach dieser Allgegenwart. Ich habe das Glück, dass mir niemand vorschreibt, was ich wann tun soll, ausser die Natur selbst.
Der Bauernberuf ist nicht einfach ein Job, er ist ein Lebensstil, der alle Aspekte des Lebens durchdringt.
Wer unterstützt euch bei der Arbeit?
MB: Wir sind eine Bauernfamilie. Mein Partner, der siebzig Jahre alt ist, geht langsam in Rente. Selber bin ich seit ein paar Wochen offiziell pensioniert. Seit sechs Jahren haben wir einen Teilzeitmitarbeiter und während der Alp-Saison helfen jeweils Freiwillige mit. In der Schweiz haben wir die Unterstützung des Staates. Diese Beiträge erlauben es uns, die Preise niedrig zu halten, sonst hätten wir keinen Markt.
LA: Die Familie. Meine Frau und zwei Enkelkinder, die bei uns wohnen, helfen mit. Auch wohnen unsere sechs Kinder in der Nähe und unterstützen uns bei Bedarf. Teil einer landwirtschaftlichen Genossenschaft zu sein, ist wichtig für uns. Wir sind seit jeher Mitglied bei Carlo Alberto Vásquez. Dort mitzuwirken, ist motivierend und lehrreich. Auch habe ich konkrete Hilfe erfahren, indem mir ein Stück Land zur Verfügung gestellt wurde. Unsere Genossenschaft wird von UCANS (unión de cooperativas agropecuarias del norte de Las Segovias), einem Zusammenschluss von 35 landwirtschaftlichen Genossenschaften im Departement Madriz, unterstützt.
Zwei Bauernhöfe: Mariapia Bisi in Rancone, Don Luis Alfredo in El Naranjo.
Comundo arbeitet mit der Kooperative UCANS zusammen. Don Luis Alfredo, inwiefern profitieren Sie von der Zusammenarbeit?
LA: Die Unterstützung ist gross. Vom UCANS-Techniker erhalten wir agronomische Beratung bezüglich der Bodenvorbereitung, der Pflanzung, der Pflanzenpflege bis hin zur Ernte. Und Marco Ventriglia (Comundo-Fachperson bei UCANS, die Red.) hat mir die Führung der Buchhaltung gelehrt und mich mit Elementen der Betriebsführung vertraut gemacht.
Teil einer landwirtschaftlichen Genossenschaft zu sein, ist wichtig für uns.
Verdienen Sie genug Geld, um den Lebensunterhalt zu bestreiten?
LA: Am ertragreichsten ist das Gemüse, vor allem die gelben Zwiebeln kommen gut an. Dank der buchhalterischen und betriebswirtschaftlichen Fertigkeiten, die Marco Ventriglia mir beigebracht hat (siehe Hauptartikel in HORIZONTE September 2022: www.comundo.org/ventriglia, die Red.), konnte ich erkennen, dass wir einen kleinen Jahresgewinn erwirtschaftet haben, 3.000 Cordoba (rund 80 Schweizer Franken). Das ist wenig, aber vorher haben wir gar nichts verdient! So konnte ich meine Rechnungen bezahlen, ohne jemanden um Hilfe bitten zu müssen. In den letzten Jahren haben wir aufgrund von Wassermangel oder Hurrikanen zweimal die Ernte verloren.
MB: Ich führe in unserem Betrieb die Buchhaltung. Seit zwanzig Jahren erzielen wir immer denselben Gewinn. Viele verstanden nicht, wie eine Familie mit so wenig Einkommen leben konnte! Als Bäuerin oder Bauer wird man nicht reich, aber ich beschwere mich nicht. Die landwirtschaftliche Arbeit in der Schweiz wird geschätzt. Die Arbeitsstunden zählen wir nicht, denn wollten wir die Produktionskosten vollständig ausgleichen, müssten wir exorbitante Preise verrechnen. Glücklicherweise gibt es staatliche Beiträge. Es ist kein Leben in Not, uns fehlt es an nichts. Zudem haben das Privileg, genau zu wissen, was wir essen, da wir es selbst produzieren!
Zwei Herausforderungen: In Nicaragua herrscht oftmals Dürre, im Tessin kämpfen die Bauern gegen Wolfsrudel.
Plagen Sie Sorgen, wenn Sie an die Zukunft denken?
LA: Das Alter erlaubt es mir nicht mehr, so zu arbeiten wie bisher. Die Familie unterstützt mich, sonst würde es nicht gehen. Wir alle fürchten uns vor der Dürre: Wir leben hier im Trockenkorridor Nicaraguas und in letzter Zeit sind sogar die Winter trocken gewesen. Wenn es zwischen Mai und Oktober nicht regnet oder wenn es Hurrikane gibt, verlieren wir alles.
MB: Wenn unser Sohn nicht beschlossen hätte, den Betrieb zu übernehmen, hätte es mir Kopfschmerzen bereitet. Denn wenn wir verkaufen müssten, wären wir nie in der Lage gewesen, den Wert der in den letzten dreissig Jahren geleisteten Arbeit zurückzugewinnen. Aktuell sind wir jedoch besorgt über die Anwesenheit des Wolfes, der die Bedingungen, unter denen wir unsere Tiere halten, völlig verändert. In den letzten Jahren haben die Raubzüge im gesamten Alpenraum zugenommen.
Wenn es zwischen Mai und Oktober nicht regnet oder wenn es Hurrikane gibt, verlieren wir alles.
Was bedeutet das Altern für Sie? Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?
LA: Ich habe keine Angst vor dem Tod, er liegt in Gottes Hand. Aber ich hoffe, immer die Kraft zum Arbeiten zu haben. Ich habe mein ganzes Leben für den Lebensunterhalt gearbeitet. Ich hatte nie einen geregelten Job, der es mir ermöglicht hätte, Rentenbeiträge einzuzahlen. Um meine Familie zu ernähren, muss ich weiterarbeiten und auf eine gute Ernte hoffen. Somit denke ich, dass ich in zehn Jahren immer noch hier sein werde, um mein Land zu bearbeiten. Wahrscheinlich werden auch meine Enkelkinder noch da sein und mithelfen. Und ich hoffe, sie geniessen diese Arbeit genauso wie wir!
MG: Ich schaue gelassen in die Zukunft, obwohl ich fühle, dass sich mein Körper verändert. Ich werde Geduld brauchen, denn ich werde weniger tun können. Vielleicht werde ich nicht mehr zum Heuen in die Leventina oder auf die Alp auf 1.500 Meter gehen. Mein Mann und ich sind jetzt im Ruhestand. Hoffentlich können wir es etwas langsamer angehen, während wir unserem Sohn weiterhin bei der Arbeit unterstützen. Ich habe viele Leidenschaften: Harfe spielen, unser Garten, vielleicht einige Touristen auf dem Bauernhof begrüssen und weiter daran arbeiten, das Bewusstsein für die bäuerliche Welt zu schärfen – bei Schulkindern und bei der Bevölkerung im Allgemeinen.
Zwei Regionen: Don Luis Alfredo überquert den Fluss, Mariapia Bisi bezwingt steile Hänge.
Was erhofft ihr euch für die Zukunft, wovon träumt ihr?
LA: Ich möchte möglichst auf Chemikalien im Landbau verzichten. Sie sind nicht nur sehr teuer, sondern verschmutzen auch die Erde. Ich kenne Menschen, die über 100 Jahre alt wurden. Vielleicht gerade deswegen, weil sie nicht alle Gifte assen, die wir essen! Ohne Chemikalien ist zudem alles schmackhafter und gesünder. Hier würde ich gerne dazulernen, vielleicht gibt es bei UCANS eine Möglichkeit.
MB: Jetzt, wo ich pensioniert bin, will ich ein wenig kürzertreten: weniger tun, das aber umso besser! Ich möchte weiterhin die Leidenschaft für die Landwirtschaft vermitteln. Ich finde es wichtig, die Natur und ihre Rhythmen zu respektieren, auch im Hinblick auf die Nachhaltigkeit. Dieses Bewusstsein möchte ich meinen Enkelkindern vermitteln.
Im Dialog
Don Luis Alfredo Olivera (65) hat sein ganzes Leben lang als Landwirt gearbeitet. Er lebt mit seiner Frau und zwei Enkelkindern in der Gemeinde El Naranjo, im Norden des Landes, wo er ein kleines Grundstück auf etwa 600 Metern über dem Meeresspiegel hat. Es ist ein bescheidenes Haus, aber es hat alles, was nötig ist: Es gibt Schatten und der Rio Coco ist nah. Es gibt Platz für ein Ferkel, ein paar Kühe, eine kleine Hühnerfarm. Don Luis Afredp baut Mais, Bohnen und Sorghumhirsen an und daneben betreibt die Familie einen kleinen Familiengarten, wo Zwiebeln, Koriander, Rüben, Karotten, Tomaten und Sellerie für den Eigenbedarf und zum Verkauf.
Mariapia Bisi (64) verbachte bereits in ihrer Kindheit die Sommer mit ihren Grosseltern im Leventina-Tal und half bei der Heuernte. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Kindergärtnerin und übte den Beruf etwa zehn Jahre lang in Mendrisiotto aus. Seit über dreissig Jahren lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Gegend von Locarno, in Rancone, 700 m über dem Meeresspiegel. Der Stall, in dem 60 Ziegen und 30 Schafe untergebracht sind, liegt versteckt. Der Weg nach oben ist unpassierbar, weshalb sie eine kleine Materialbahn gebaut haben, um Menschen und Material zu transportieren; sie schafft 100 Meter steilen Aufstieg in weniger als einer Minute.