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14.03.2022

Ein schmaler Grat zum Frieden – Interview

Vor gut fünf Jahren wurde in Kolumbien Frieden geschlossen. Wie zeigt sich der Frieden und wieso ist die Sicherheitslage vielerorts immer noch prekär? Wir haben mit dem profunden Kolumbien-Kenner Philipp Lustenberger darüber gesprochen. Welchen Beitrag können unsere lokalen Partnerorganisationen und Comundo-Fachleute leisten, um die enormen Herausforderungen zu meistern?

Philipp Lustenberger (stehend links) bei einem Seminar über Dialog und Mediation im Rahmen einer Koordinationsplattform der Pazifikregion.


Philipp Lustenberger ist ist Co-Leiter des Mediationsprozessen von swisspeace. Er konzentriert sich auf die Gestaltung von Meditationsprozessen, den nationalen Dialog und Inklusivität/Partizipation. Er besitzt einen Master der School of Advanced International Studies (SAIS) der Johns Hopkins University und einen Abschluss des Graduate Institute of International and Development Studies in Genf.

 


HORIZONTE: Herr Lustenberger, welche besondere Beziehung haben Sie zu Kolumbien? 

Philipp Lustenberger: Ich kenne Kolumbien seit 15 Jahren: Im Jahr 2007 ging ich für zwei Jahre dorthin, zuerst als Zivildienstleistender für das HEKS, dann für die Diözese Quibdó, hauptsächlich war ich in der Provinz Chocó. Dort habe ich den Krieg gesehen, und schwer davon betroffene Gemeinden, die zwischen den Fronten aufgerieben wurden. 2014 bin ich nach Kolumbien zurückgekehrt und habe vier Jahre lang in der Schweizer Botschaft in Bogotá gearbeitet. Ich habe ein Land im Friedensprozess erlebt, eine polarisierte Gesellschaft, aber offen zum Gespräch. Heute noch kehre ich regelmässig zurück, um die Organisation CINEP im Dialog- und Mediationsprozess zu unterstützen. Im Grossen und Ganzen habe ich gesehen, dass sich das Land positiv entwickelt, auch wenn ich es bedaure, dass der Friedensvertrag noch nicht sein ganzes Potenzial entfaltet hat. 

Ist es richtig, dass Comundo sein Engagement in Lateinamerika und insbesondere in Kolumbien weiterführt?

Ja. Ich denke, wir stehen an einem kritischen Punkt: Die Lage in einigen Ländern dort ist fragil, etwa im benachbarten Venezuela;

Kolumbien selber befindet sich in einem fragilen Friedensprozess, und auch wenn bereits wichtige Schritte unternommen wurden, gibt es noch enorme Herausforderungen zu meistern.  

Um Frieden zu konsolidieren, braucht es mindestens zehn bis fünfzehn Jahre, und Kolumbien hat in fünf Jahren nur einen Teil des Weges zurückgelegt. Der Staat und die Gesellschaft in ihrer ganzen Bandbreite müssen sich erst noch von den Ursachen der Gewalt befreien und in die Entwicklung der am stärksten betroffenen ländlichen Gebiete investieren. In dieser Hinsicht ist die finanzielle Unterstützung sicher sehr wichtig: Zwar hat die offizielle Schweiz die Einstellung ihrer Programme der Entwicklungszusammenarbeit beschlossen, aber sie ist weiterhin auf drei anderen Gebieten tätig: in der wirtschaftlichen Entwicklung durch das SECO, in der humanitäre Hilfe durch das DEZA, und durch die Abteilung Frieden und Menschenrechte des EDA. Aber ebenso wichtig sind die technische Hilfe oder die Unterstützung im Rahmen der Solidarität, wie sie Comundo seinen Partnern bietet.     

Die gut zehn Projekte, die wir begleiten, haben alle das Ziel, zu einem dauerhaften Frieden beizutragen. Wie beurteilen Sie dieses Engagement?  
 

Die Comundo-Fachleute leisten einen sehr wichtigen Beitrag, indem sie zivilgesellschaftliche Organisationen und Kirchen dabei unterstützen, ihre Kompetenzen in der Friedensförderung und der Menschrechtsarbeit nachhaltig zu stärken. 

Diese Organisationen spielen in Kolumbien wirklich eine zentrale Rolle: Sie geniessen grosses Vertrauen in der Bevölkerung, sie arbeiten in Regionen oder Stadtteilen, in denen der Staat kaum präsent ist, und sie unterstützen aktiv benachteiligte Bevölkerungsgruppen, insbesondere Konfliktopfer, damit diese der Gewalt und ihrer prekären sozioökonomischen Lage besser standhalten können. 

Die Journalistin Julia Schmidt interviewt eine Frau, deren Dorf umgesiedelt werden soll. Comundo-Fachleute wie sie geben Benachteiligten in Kolumbien eine Stimme und stärken ihre Rechte.

Wie begegnet die ländliche Bevölkerung, die oft am stärksten betroffen ist, den weiterhin bestehenden Ungerechtigkeiten?

Anstelle von «Ungerechtigkeiten» – ein Begriff, der verschiedene Bedeutungsebenen haben kann: juristisch, sozial oder politisch – möchte ich lieber von Menschenrechtsverletzungen, sozialer Ungleichheit oder Diskriminierung sprechen. Ich habe viel Zeit im Departement Chocó verbracht, einem Gebiet, das praktisch von der institutionellen Landkarte des Staates gestrichen worden ist. Die Bevölkerung dort ist seit Jahrzehnten der Gewalt ausgesetzt, drei Viertel sind als Opfer des Konflikts anerkannt. Mehrere bewaffnete Akteure – staatliche und nichtstaatliche – sind dort gleichzeitig präsent, und die Gemeinden geraten ständig zwischen die Fronten. Und dennoch ...

Trotz der grossen Zahl erschütternder und tragischer Einzel- und Kollektivschicksale haben die Menschen eine enorme Widerstandsfähigkeit entwickelt und ihre Lebensfreude bewahrt: Die Hoffnung auf ein besseres Leben und die Kraft, trotz aller Widrigkeiten daran weiterzuarbeiten, ist tief verankert.

Viel Lebensfreude trotz teils widriger Lebensumstände: Frauen in einem Armenviertel der Stadt Cali, wo sich viele Vertriebene angesiedelt haben. Comundo-Fachperson Andreas Hetzer setzt sich hier für bessere Lebensbedingungen ein. 

Wie beurteilen Sie den Weg, den Kolumbien seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens vor fünf Jahren zurückgelegt hat?

Die Bilanz ist durchzogen. Zunächst einmal ist das Glas halb voll: Es wurden immerhin wichtige Schritte unternommen! Das Friedensabkommen stellt einen grossen Fortschritt dar; es beendete den über fünfzigjährigen Konflikt mit der FARC und ermöglichte es, an der Beseitigung der Ursachen der Gewalt auf nationaler Ebene und in den ländlichen Gebieten zu arbeiten. Eine grosse Mehrheit der ehemaligen FARC-Kämpferinnen und -kämpfer hat den bewaffneten Kampf zugunsten des politischen Kampfes aufgegeben; und auch wenn die Gespräche mit anderen Gruppen wie der ELN in einer Sackgasse stecken, hoffe ich, dass beide Seiten bald den Willen haben, in einen ernsthaften Prozess einzutreten. Auch gewisse Entwicklungsprogramme für den ländlichen Raum in den von der Gewalt betroffenen Regionen haben einige positive Ergebnisse gezeitigt: zunächst einmal jenes, dass sie in einem partizipativen Prozess durchgeführt wurden ... Aber auch einige staatliche Investitionen hatten konkrete Ergebnisse zur Folge, wie etwa kommunale Infrastruktur oder Strassen, die eine bessere Anbindung der entlegensten Gebiete brachten. Und nicht zuletzt kann das System zur Vergangenheitsbewältigung, mit einer Übergangsjustiz, einer Wahrheitskommission und einer Einheit für die Suche nach Verschwundenen, als beispielhaft angesehen werden – auch wenn die Ergebnisse erst in den kommenden Jahren wirklich sichtbar werden. 

Sie haben von einer durchzogenen Bilanz gesprochen…

Es gibt immer noch zahlreiche grosse Herausforderungen! Das Land hat die Chance, die das Friedensabkommen bietet, noch nicht voll genutzt. Es gibt nach wie vor sehr grosse strukturelle Probleme in vielen Regionen, in denen der Rechtsstaat zu wenig präsent ist und neue bewaffnete Gruppen die Bevölkerung unter Kontrolle halten. Dort ist Gewalt im Zusammenhang mit dem Drogenhandel und der Erzgewinnung an der Tagesordnung. Es ist daher entscheidend, die tieferliegenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen, um die Ausbreitung der Gewalt durch andere Gruppen einzudämmen.

Wo besteht am meisten Handlungsbedarf?

Den idealen Friedensprozess gibt es nicht.

Jeder Friedensprozess bringt äusserst komplexe soziale und politische Herausforderungen mit sich, die sich von Fall zu Fall unterscheiden und kontextspezifisch sind. Aber ich glaube, man muss sich vor allem damit befassen, wie echte Fortschritte für die Lebensqualität in den Gemeinden erreicht werden können.

Dies ist nur durch eine stärkere Präsenz der Rechtsstaatlichkeit, eine Vertiefung des sozialen Dialogs sowie strukturelle und wirtschaftliche Entwicklung in den Regionen, die von Gewalt betroffen sind, möglich. Ich hoffe, dass in der Zeit vor den Präsidentschaftswahlen im Mai diese Anliegen vorangebracht werden können, auch wenn ein Teil der kolumbianischen Öffentlichkeit der Umsetzung solcher Ansätze sehr skeptisch gegenübersteht. Und ich hoffe, dass Kolumbien beim Aufbau des Friedens weitere Fortschritte macht.

Der Frühling 2021 war eine sehr bewegte Zeit in Kolumbien… 

Die sozialen Proteste im Frühjahr 2021 haben gezeigt, dass die kolumbianische Gesellschaft strukturelle Probleme wie die soziale Ungleichheit lösen will. Die Polarisierung war bereits während der jahrelangen Verhandlungen mit der FARC über Fragen der Übergangsjustiz sehr stark und es wurden sehr pragmatische Entscheidungen in Bezug auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gefällt, indem ein System eingeführt wurde, das auf mehreren Säulen beruht: Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Garantien der Nichtwiederholung. Mit dem Friedensabkommen und dem Ende des Konflikts zwischen dem Staat und der FARC hat sich ein Raum geöffnet, in dem die Fragen der sozialen Ungleichheit stärker öffentlich diskutiert werden. Doch die Proteste führten zu massiven Spannungen, noch verstärkt durch einen heftigen Ausbruch der Coronapandemie, die gesundheitliche wie sozioökonomische Auswirkungen hatte. Und die Regierung war nicht zu einem echten Dialog mit den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften und sozioökonomischen Segmenten bereit, die sich zu Wort gemeldet hatten.

Was wird Ihrer Einschätzung nach im Frühling 2022 passieren?

Bei den bevorstehenden Wahlen besteht meine Hoffnung darin, dass eine konstruktive öffentliche Debatte über die strukturellen Herausforderungen des Staates und der kolumbianischen Gesellschaft stattfinden kann und dass das Thema Frieden stärker in den Vordergrund rückt als vor vier Jahren. Allzu oft orientieren sich die Debatten im lateinamerikanischen Wahlkampf jedoch mehr an Persönlichkeiten, als dass sie eine ernsthafte Auseinandersetzung mit wichtigen politischen Themen bieten. Es ist möglich, dass die kolumbianische Gesellschaft für die Nachfolge von Präsident Iván Duque, der nicht wiedergewählt werden kann, eher zur Mitte hin tendiert. Abzuwarten bleibt, wie sich der Umstand, dass die Jugend heute viel stärker politisiert ist als früher, auf die Wahl auswirken wird.

 

Mehr zu Kolumbien im aktuellen HORIZONTE

Lesen Sie in der aktuellen Ausgabe des Magazins HORIZONTE, wie unsere Fachleute Gewaltopfer in Kolumbien unterstützen – und wieso unser Engagement in Lateinamerika wichtig ist und bleibt. 
 

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