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08.09.2021 | Bolivien, Gesundheit

Wie Täter in Bolivien in den Fokus rücken

Seit 2013 will Bolivien mit einem neuen Gesetz Frauen ein gewalfreies Leben ermöglichen – endlich. Doch mit ein paar gut gemeinten Paragraphen kommen noch keine Veränderungen zustande. Wie Comundo seit Jahren mithilft, das Gesetz Wirklichkeit werden zu lassen und dabei eine neue Sichtweise auf das Problem der Gendergewalt einbringt, erläutert der Psychologe Marco Ballesteros. 

Workshop zur Gewaltprävention und Interventionsmöglichkeiten

Ist es möglich, geschlechtsspezifische Gewalt zu verringern oder ihr vorzubeugen, wenn der Schwerpunkt nur auf einem Teil der Protagonisten, nämlich den Opfern, liegt? D.h. wenn nur einem der Akteure (nämlich dem Opfer) versucht wird Hilfe zu leisten und dabei der Beziehungsaspekt vergessen geht? In Bolivien ist geschlechtsspezifische Gewalt vorwiegend ein Problem, unter dem Frauen leiden. Dabei ist es auch ein Problem der Männer, die Gewalt ausüben, tolerieren und rechtfertigen. 

Mit dem 2013 eingeführten Gesetz 348 (zur Gewährleistung eines gewaltfreien Lebens für Frauen) wurde ein legitimer Versuch unternommen, geschlechtsspezifische Gewalt umfassender anzugehen um ihr ein Ende zu setzen. Jedoch stellt ein Gesetz selbst noch nicht die Lösung dar. Und eine solche Lösung zur Verhütung von Gewalt an Frauen, ist in Bolivien dringend notwendig.

Bereits vor Jahren erkannte die Schweizer Organisation INTERTEAM (heute Comundo), dass zur Umsetzung des neuen Gesetzes unter anderem ein vermehrter Fokus auf gewalttätige Männer (im Hinblick auf die Prävention) ein erfolgsversprechender Ansatz im Kampf gegen Gewalt an Frauen darstellt. Man beschloss, sich diesem Thema anzunehmen und einen therapeutischen Leitfaden zu entwickeln für die Arbeit mit Männern, die geschlechtsspezifische Gewalt ausüben. Etwas, das bisher in Bolivien (und auch in vielen anderen Ländern der Welt) vollkommenes Neuland war.

Ein Leitfaden für Männerarbeit – Ein Novum in Bolivien

Im Auftrag von INTERTEAM/Comundo und der langjährigen Partnerorganisation INFANTE sammelte der Psychologe Aritz Pérez Erfahrungen aus der Arbeit mit Männern in Argentinien, Mexiko und Spanien. So erschien erstmals 2013 unter dem Titel „Frente a Frente“ („Von Angesicht zu Angesicht“) ein Ratgeber mit Erfahrungen, Überlegungen und Vorschlägen zur psychologischen Arbeit mit gewalttätigen Männern. 

«Wir müssen in einem Täter mehr sehen,
als ein Subjekt gerichtlicher Sanktionen.»

Im September 2016 stiess ich als Psychologe und Fachperson ebenfalls zu INTERTEAM/Comundo. Mein Ziel war es, die Methodik des Leitfadens in den öffentlichen und privaten Sektor zu übertragen. Im Vordergrund stand die Anwendung in den Städten Cochabamba, La Paz, Sucre und Potosí. In Zusammenarbeit mit weiteren Mitarbeitenden des Landesbüros von Comundo begannen wir mit der Durchführung diverser Aktivitäten in Cochabamba. Mit Symposien, Vorträgen, Social Advocacy-Aktionen oder der konkreten Unterstützung von öffentlichen Einrichtungen wollten wir ein neues Bewusstsein schaffen; uns war wichtig, dass die Leute verstanden, weshalb und zu welchem Zweck die psychologische Arbeit mit gewalttätigen Männern in Bolivien so wichtig ist. Unser Leitfaden und eine permanente Begleitung verhalfen so den wenigen öffentlichen Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen im Raum Cochabamba, ihre Männerarbeit stetig anzupassen und zu professionalisieren. 

Erfolgreiche Vernetzungsarbeit steigert Anerkennung und Nachfrage

Ein bisheriger Höhepunkt unserer erfolgreichen Arbeit war eine von Comundo organisierte Konferenz; hier nahmen die meisten in Bolivien tätigen Organisationen teil, die mit Männern arbeiten. Zusammen entwickelten wir einen Vorschlag zur Änderung des Gesetzes 348, damit die psychologische Arbeit mit gewalttätigen Männern auch endlich Teil der öffentlichen Politik wird.

In den letzten Jahren war ich nun damit bemüht, im Rahmen meiner Arbeit für Comundo das Thema in der bolivianischen Gesellschaft besser zu verankern. Hierzu führen wir beispielsweise monatliche Interviews mit diversen Psychologen durch, die mit Männern arbeiten; wir sammeln und analysieren so diverse Erfahrungen in diesem Bereich und machen diese den Institutionen wieder zugänglich. Ebenso haben wir begonnen, einen Austausch mit Psychologen anderer Departemente wie Tarija oder Santa Cruz zu suchen, um unsere Methoden und Erkenntnisse weiterzugeben. «Der Leitfaden bietet mir therapeuthische Werkzeuge, die aus der Forschung heraus entwickelt wurden. Ich habe Techniken gelernt, die mir in meiner täglichen Arbeit helfen, mit der Wut und den Ängsten gewalttätiger Männer umzugehen», meint Genaro Maldonado, einer jener Psychologen, die in den wenigen öffentlichen Einrichtungen mit gewalttätigen Männern arbeiten.

Heute suchen immer mehr Männer die wenigen öffentlich zur Verfügung stehenden Einrichtungen für Ratschläge und Therapiezwecke auf, sei es freiwillig wegen Beziehungsproblemen oder verordnet durch die Staatsanwaltschaft. Dies steigert einerseits das Interesse an unserem entwickelten Leitfaden; die Einrichtungen möchten diesen im Rahmen ihrer regionalen Gegebenheiten und Möglichkeiten entsprechend umsetzen. Anderseits verdeutlicht die gesteigerte Nachfrage auch ein höheres Bewusstsein in Bolivien und eine Anerkennung der Wichtigkeit, mit gewalttätigen Personen therapeutisch zu arbeiten.

«Sexuelle Gewalt gehört zur Tagesordnung.»


Die Qualitätsmanagerin und Comundo-Fachperson Sabrina Maass verbessert zusammen mit der Partnerorganisation ENDA die Betreuung von Gewaltopfern in El Alto. Im Gespräch erläutert sie die Hauptursachen, warum Bolivien zu jenen Ländern Lateinamerikas mit der höchtsten Gewaltrate gehört.

 

► Audio-Interview mit Sabrina Maass vom 2. Juli 2021: Analyse zu Ursachen der Gewalt in Bolivien (5:30 Min)

 

Zum Einsatzprofil von Sabrina Maass

Konferenz zum Thema Männergewalt und warum die Arbeit mit Männern so wichtig ist, um zukünftiger Gewalt vorzubeugen (Potosi, 11. März 2020).

Mehr als nur ein Subjekt gerichtlicher Sanktionen

Unser Versuch ist es, dieses schwierige Thema umfassend anzugehen, und das Gesetzt 348 endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Dies bedeutet, Männer als spezifische Zielgruppe für Präventionsmassnahmen nicht auszuschliessen. Schliesslich sind sie die Hauptverursacher des Problems. Sie einzubeziehen bedeutet, sie nicht nur als Subjekte gerichtlicher Sanktionen wahrzunehmen, sondern auch als wichtige Zielgruppe in der Präventionsarbeit und Forschung. Unsere erfolgreichen Bemühungen der letzten Jahre, mehr den Fokus auch auf die Täter zu legen, basieren genau auf diesen Überlegungen.

Übersetzt aus dem Spanischen

Von Marco Ballesteros | 8. September 2021 | Bolivien

 

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Marco Ballesteros

Diplom-Psychologe

Marco Ballesteros bildet in Zusammenarbeit mit dem Berufsverband der Psychologen und weiteren Institutionen von Cochabamba Personal von staatlichen und privaten Einrichtungen in Tätertherapie aus.
 

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