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12.11.2019

«Im Moment gibt es kein akutes Sicherheitsproblem»

In Bolivien sind derzeit zwanzig Fachpersonen von Comundo und INTERTEAM in Partnerorganisationen im Einsatz, die sich in unterschiedlichen Bereichen engagieren. Im Interview zeigt Landeskoordinatorin Marta Pello auf, wie die Einsatzleistenden von der Wahlkrise betroffen sind und wie sie mit den Einschränkungen umgehen.

Marta Pello, wie bewältigen Sie und die Fachpersonen den seit gut drei Wochen von Unruhen, Spannungen und Blockaden geprägten Alltag?
Unsere Fachpersonen zeigen ein hohes Mass an Empathie, einfühlsamer Konfliktbewältigung und Frustrationstoleranz. Wir stehen untereinander in ständigem Kontakt per WhatsApp und Telefon.

Sind alle Landesregionen bzw. alle Einsatzleistenden von der Krise gleich stark betroffen?
Die Situation in den Landesregionen ist unterschiedlich und verändert sich laufend. Das ganze Land ist gespalten.

Wie wirkt sich die unsichere Lage auf die Arbeit und den Alltag der Fachpersonen aus?
Die meisten Fachpersonen arbeiten momentan von zu Hause aus. Wir sind herausgefordert zu beurteilen, ab wann sie wieder in die Organisationen zurückkehren und wie sie ihre Arbeit fortführen können. So geben wir täglich Empfehlungen ab und analysieren die Situation aufgrund der Meldungen von Vertrauenspersonen, die in den verschiedenen Regionen leben oder über relevante Informationen verfügen.

Wie schätzt Du das Sicherheitsrisiko für unsere Fachpersonen ein?
Im Moment gibt es kein akutes Sicherheitsproblem. Wir haben Zugang zu Medien, Internet, Essen und Trinken. Die Mobilität ist eingeschränkt, aber es besteht keine unmittelbare Gefahr für unsere Fachpersonen. Allerdings dürfen sie sich keinen riskanten Situationen aussetzen, von Reisen oder Fotografieren von Konflikten ist abzusehen.

Gibt es einen Krisenstab, der das Sicherheitsrisiko für die Fachpersonen beurteilt?
Wir haben eine Sicherheitsüberwachungsgruppe mit der GIZ, Interteam, Eirene, Brot für die Welt, Caritas und anderen Organisationen. Wir treffen uns zweimal wöchentlich, um uns einen Überblick über die aktuelle Lage zu verschaffen. In einer Whatsapp-Gruppe halten wir uns mit den aktuellsten Nachrichten auf dem Laufenden und wir verfolgen die Empfehlungen der Botschaften. Unsere Partnerorganisationen sind soweit es nötig ist, angewiesen, uns über die Lage in ihren Gebieten zu informieren, ganz besonders auch hinsichtlich der Situation unserer Einsatzleistenden.

Gibt es konkrete Verhaltensregeln für die Fachpersonen?
Unsere Fachpersonen haben vor ihrer Ausreise einen Verhaltenskodex unterzeichnet. Demzufolge dürfen sie im Einsatzland nicht politisch aktiv werden. Sie dürfen aber Informationen in die Schweiz übermitteln, solange dies nicht im Namen von Comundo geschieht. Unsere Partnerorganisationen werden aber durch unsere Fachpersonen befähigt, ihre Meinungsfreiheit einzufordern und umzusetzen. Ein Beispiel: Wenn wir uns in einer Organisation für den Umweltschutz engagieren, muss zwingend eine Person aus dem Land die entsprechende Arbeitsgruppe leiten. Unsere Fachperson darf die Gruppe unterstützen, sie darf aber nicht Protagonist sein.

Sollte die Krise in Bolivien länger andauern, was würde dies für die Arbeit unserer Fachpersonen in den Partnerorganisationen bedeuten?
Aufgrund der eingeschränkten Mobilität mussten wir bislang verschiedene gemeinsame Aktivitäten einstellen. Dadurch gibt es eine Verzögerung bei der Durchführung der geplanten Projekte. Auch werden wir über Strategien zum Umgang mit dieser Situation nachdenken müssen, die auch psychisch belastend werden kann.

Und noch eine allgemeine Frage: Was bedeutet der Umstand, dass der umstrittene Präsident Evo Morales indigenen Ursprungs ist? Könnte das kontraproduktiv für die Gleichstellung der Ethnien sein?
Diese Frage finde ich sehr europazentriert. Es gibt Analysen, die versuchen, die gegenwärtige Situation als Konflikt zwischen der indigenen und nicht indigenen sowie zwischen der bäuerlichen und urbanen Bevölkerung zu stilisieren. Der Kontext, in dem wir uns bewegen, ist jedoch komplexer und heterogener. Die Polarisierung ist so gross, dass die meisten Stimmen, die zum Dialog oder zu einer friedlichen Lösung einladen, untergehen. Rassismus und Diskriminierung sind historisch begründet und prägen die kollektive Vorstellung. Die aktuelle Situation zeigt, dass die bolivianische Gesellschaft immer noch sehr von kolonialen und patriarchalen Denkweisen und sehr konservativen Werten geprägt ist.

Interview: Christa Arnet
Video: Nicole Maron
Bild: Friedliche Demonstration in La Paz, Zona Sur © Janis Greminger