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10.07.2020 | Bolivien, Ernährung und Einkommen

Städtische Gemüseplantagen sichern das Überleben

Wie soll man in einer Grossstadt wie El Alto während der Corona-Krise über die Runden kommen? Comundo-Fachperson Jérôme Gyger schildert die Situation vor Ort angesichts informeller Wirtschaft und häuslicher Gewalt. Wie kann sein städtisches Landwirtschaftsprojekt die Situation der Menschen verbessern?

Comundo-Fachperson Jérôme Gyger mit der Gemüseanbauerin Doña Bartolina Ticona in ihrem kleinen Bio-Gewächshaus in El Alto.

Seit dem 22. März leben wir in Bolivien unter strenger Quarantäne. Diese Situation, die im Januar bei unserer Ankunft noch völlig unvorstellbar war, ist heute Realität. Nachfolgend möchte ich Einblick geben in unsere Situation hier vor Ort. Lassen Sie sich für einige Augenblicke nach Bolivien entführen und erfahren Sie mehr über unser städtisches Projekt zur Ernährungssicherung mit den Frauen meiner Partnerorganisation FOCAPACI.

Kein Einkommen – mehr Gewalt

Die Möglichkeit, sich und seine Familie mit eigenen Nahrungsmitteln zu versorgen, ist in der Corona-Krise wichtiger denn je. Viele Menschen kämpfen um ihr Überleben. Die Wirtschaft in El Alto basiert auf informellem Handel. Zwischen 70 und 80 Prozent der Bevölkerung halten sich von Tag zu Tag mit kleinen Geschäften über Wasser. Die Ausgangssperre nimmt ihnen die Möglichkeit, Einkommen zu generieren. Deshalb widersetzen sich ihr die Menschen in vielen Stadtteilen mit der Begründung, dass sie den sicheren Tod bedeutet. 

Die existentielle Bedrohung durch Covid-19 führt zu weiteren negativen Folgen: Die häusliche Gewalt nimmt drastisch zu. Gemäss Untersuchungen meiner Partnerorganisation, dem Aus- und Weiterbildungszentrum FOCAPACI, sind fast 70 Prozent der Frauen, mit denen wir arbeiten, Opfer irgendeiner Art von Gewalt in ihrem Zuhause. Diese Lage ist alarmierend und wird leider durch die Quarantäne noch verschlimmert. Während eines Monats hat die Regierung fast tausend Fälle von häuslicher Gewalt und fünf Morde an Frauen bekanntgegeben. Bolivien ist schlichtweg das Land in Südamerika mit der höchsten Frauenmordrate (gemäss Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik, CEPAL). Glücklicherweise geben Organisationen wie FOCAPACI den Menschen und insbesondere den Frauen Hoffnung.

Während der Corona-Krise haben wir unsere Tätigkeiten neu ausgerichtet, um den am stärksten benachteiligten Menschen zu helfen. So stellen wir ihnen etwa Körbe mit Gemüse aus unseren Gewächshäusern zur Verfügung. Nun planen wir, diese Hilfe auf 400 Familien auszuweiten. 

Mit Unterstützung von Jérôme Gyger soll die Corona-Hilfe auf 400 Familien ausgeweitet werden. Vielen Dank, dass Sie seinen wichtigen Einsatz mittragen!

 

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Gewächshäuser auf 4’000 Metern Höhe

Seit Januar bin ich daran, das städtische Landwirtschaftsprojekt und die 300 Bäuerinnen, die daran beteiligt sind, näher kennenzulernen. Als ich zum ersten Mal ein Solarzelt betrat, staunte ich nicht schlecht über die Reichtümer: Erdbeeren, Tomaten, Trauben und Mais werden in diesen städtischen Gewächshäusern auf einer Höhe von 4’000 Metern angebaut.

Die Solarzelte in der städtischen Umgebung ermöglichen es, ganze Familien auf gesunde Weise zu ernähren.

Dies ist das Hauptziel unseres Projekts. Die Frauen werden durch ihre Arbeit geschätzt und sind dankbar für die vielfältigen Nahrungsmittel, die sie produzieren können. Sie ermöglichen nicht nur eine deutliche Einsparung bei den Familienausgaben. Viele Frauen bestätigen auch die positiven Auswirkungen der Nahrungsmittel auf die Gesundheit ihrer Kinder. Sie seien nun viel weniger krank. Früher führte die einseitige und oft schlechte Qualität der Lebensmittel zu Mängeln, insbesondere bei den Kindern.

In naher Zukunft soll die Produktion von Gemüse und Obst soweit gesteigert werden, dass die Frauen mit dem Verkauf zusätzliches Einkommen erwirtschaften können.

So langsam kann ich erahnen, welche Herausforderungen diesbezüglich auf uns zukommen. Angesichts der engen Platzverhältnisse in der Stadt besitzen nur rund 120 der 300 Frauen ein ausreichend grosses Gewächshaus, um Gemüse über den Eigenbedarf hinaus zu produzieren. Dafür sind mindestens 27 Quadratmeter nötig. Die meisten Frauen besitzen aber nur kleine Gartenparzellen von zwei bis drei Quadratmetern. Aus diesem Grund konzentrieren wir uns aktuell auf die Errichtung neuer Solarzelte. Ein weiteres Hindernis stellen die Anfangsinvestitionen dar, welche die Frauen aufbringen müssen. Der ökologische Anbau ohne Einsatz von Pestiziden erfordert spezielle Werkzeuge und Materialien – eine Investition in die Zukunft, die sich aber auf alle Fälle lohnt.

Solide Ausbildung zur Selbsthilfe

Wenn Frauen am Projekt teilnehmen möchten, werden sie direkt in unser Ausbildungsprogramm aufgenommen. Sodass sie schnell lernen, die Produkte selbständig anzubauen.

Meine Aufgabe besteht darin, die Frauen beim Aufbau eines Marketing- und Buchhaltungsprogramms zu unterstützen. Ich helfe ihnen bei der Vermarktung ihrer Produkte und definiere mit ihnen die strategischen Geschäftsfelder.

Es sind definitiv die Frauen selbst, die dafür die entscheidenden Inputs einbringen. Für mich geht es darum, sie bei der Ideenfindung und der Umsetzung in die Realität zu begleiten.Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Sensibilisierung der Konsumentinnen und Konsumenten. So finden die vielfältigen Bio-Produkte aus verschiedenen Gründen nicht unbedingt Anklang in der breiten Bevölkerung, sei es wegen höheren Kosten oder anderen Essgewohnheiten. Deshalb versuchen wir verschiedenste Bevölkerungsgruppen anzusprechen und sie besser zu erreichen. So dass längerfristig ein besseres Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage entsteht.

All diese Schulungen und Workshops finden in der Regel bei den Frauen zuhause statt. Wie habe ich mich gefreut, als ich feststellte, dass es nach jeder Weiterbildung ein traditionelles Apthapi gibt. Dabei handelt es sich um eine uralte andine Tradition, bei der Nahrungsmittel untereinander geteilt und der gegenseitige Austausch gepflegt werden. Für mich besteht die Herausforderung darin, dass ich jedes Gericht entsprechend wertschätzen muss. Wenn die Arbeitsgruppen also mehr als zehn Frauen umfassen, kann ich Vorräte für die ganze Woche mit nach Haus nehmen.

Eine wirkungsvolle Strategie entsteht

Ende Februar nahmen wir uns mit dem Projektteam Zeit, um eine Strategie für das restliche Jahr zu definieren. Ich für meinen Teil werde das Marketing weiterentwickeln. Dabei konzentrieren wir uns auf die Konsumentinnen und Konsumenten in der direkten Nachbarschaft und fördern zumindest in kleinem Rahmen eine neue Art der Produktion und des Konsums. Wichtig ist dabei, das Marketing an den lokalen Kontext anzupassen.

Ein weiteres Projekt, an dem ich arbeite, ist der Aufbau eines Mikrokredit-Fonds. Die Idee besteht darin, den Frauen kleine Geldbeträge für Gartenwerkzeuge zur Verfügung stellen zu können. Wenn das Geschäft gut läuft, können sie diese später zurückzahlen. In der aktuellen Situation können die Kredite auch zur Deckung anderer Notwendigkeiten eingesetzt werden. Ein weiterer Schwerpunkt meiner Arbeit ist schliesslich, die Informationsverarbeitung innerhalb der Institution zu systematisieren. Sodass zum Beispiel bei Wechseln von Mitarbeitenden keine Daten mehr verlorengehen. Dabei spielt die Kommunikation via WhatsApp eine wichtige Rolle.

Ein Tag mit Doña Eduarda

Meine täglichen Aktivitäten geben mir die Gelegenheit, aussergewöhnliche Menschen zu treffen, so zum Beispiel die 67-jährige Eduarda Taquichiri. Die Mutter von vier Kindern und Grossmutter eines Enkelkindes ist seit vielen Jahren bei FOCAPACI tätig. Ursprünglich Nutzniesserin des Programms ist sie heute völlig unabhängig und hilft mit, andere Frauen in städtischer Landwirtschaft und Vermarktung auszubilden. Was wohl das Geheimnis ihres Erfolgs ist?

Eduarda Taquichiri und ich waren an einem Freitag früh morgens in El Alto verabredet. Als ich sie mit drei grossen Säcken voller Getreide ankommen sah, konnte ich ihren Mut nur bewundern. Die Ware muss fast so viel gewogen haben wie sie selbst. Deshalb war ich froh, sie begleiten und ihr bei diesem für sie sehr gewöhnlichen Freitag helfen zu können.

Wir stiegen in einen überfüllten Minibus, um eine eineinhalbstündige Fahrt im dichten Verkehr nach La Paz in Angriff zu nehmen. Ich war nicht schlecht überrascht, als sie mir mittelte, dass wir in das Gebäude des Entwicklungsministeriums gehen würden. Wie selbstverständlich zeigte sie bei der Sicherheitskontrolle ihren Ausweis und ging nach oben. Die Mitarbeitenden verliessen ihre Arbeitsplätze und eilten herbei, um ihre köstlichen Produkte zu kaufen. Der Tag muss für Doña Eduarda erfolgreich verlaufen sein. Nach Abzug der Produktions- und Transportkosten ist es Doña Eduarda gelungen, einen Gewinn von etwas mehr als zehn Dollar zu erwirtschaften.

Neben ihrem Haus in El Alto hat Doña Eduarda einen kleinen Laden für die Leute aus ihrer Nachbarschaft eingerichtet. Bis jetzt kommen leider erst wenige Leute. Die Menschen bevorzugen es, Lebensmittel in grossen Mengen, zu tiefsten Preisen und ohne Rücksicht auf die Qualität einzukaufen. Gemüse gehört nicht gerade zu den Lebensmitteln, die den Bauch schnell füllen.

Es liegt also eine grosse Herausforderung vor uns, die Menschen von einer gesunden Ernährung zu überzeugen. Doch wir sind zuversichtlich, dass unser Projekt längerfristig einen echten wirtschaftlichen Wandel in El Alto ermöglichen wird.

Vielen Dank, dass Sie meinen Einsatz für die mutigen Frauen in El Alto unterstützen. Dank Ihrer Spende können armutsbetroffene Familien auf gesunde Weise ernährt werden – insbesondere während der Corona-Krise. 
 

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Comundo-Fachperson Jérôme Gyger zur Corona-Situation in El Alto (auf Französisch):

Von Jérôme Gyger | 10. Juli 2020 | Bolivien

 

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Jérôme Gyger

Politikwissenschaftler

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Comundo-Fachperson Jérôme Gyger engagierte sich bis Ende 2021 mit Focapaci in einem Projekt zur städtischen Ernährungssicherung. Er unterstützte Frauengruppen, die in Solarzelten gesunde Lebensmittel anbauen und gleichzeitig ihre Position in der Gesellschaft stärken.