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27.04.2020 | Bolivien, Gesundheit

Wie Kinder trotz Stress der Krise trotzen

Überforderung, fehlende Betreuung und steigende Gewalt dominieren Städte wie Cochabamba in Bolivien in Zeiten der Coronakrise. Dabei geht vergessen: Kinder sind nicht nur Opfer, sondern besitzen auch Potential zur Krisenbewältigung in Familie und Gesellschaft.

Ein Mädchen, das an einem Markt in der Nähe von Quillacolo (ausserhalb Cochabamba) trotz Quarantäne versucht ihren Lebensunterhalt zu verdienen. | Lizeth Salazar Bustos/AVE

von Harold Albornoz, Wiñay Pacha

„Armut kommt selten allein“. Wie wahr dieser Satz ist, wird mir seit Ausbruch der Coronakrise einmal mehr bewusst. Wer in Cochabamba, der viertgrössten Stadt Boliviens, unter Armut leidet, leidet nicht nur an Hunger. Er leidet auch unter schlechter Schulbildung, mangelnder Gesundheitsversorgung, prekären Arbeitsbedingungen, unter Umweltproblemen oder fehlender Sicherheit und Beteiligungsmöglichkeiten. Laut einer Studie der Nichtregierungsorganisation CEDLA von 2019 betrifft dies über die Hälfte der Bevölkerung Cochabambas.

Nur 40% aller Familien sind sogenannte vollständige Familien. Das heisst, in mehr als der Hälfte aller Familien Cochabambas kümmert sich nur ein Elternteil für das Wohlergehen der Familie, meist die Mutter oder gar nur die älteren Geschwister. Nur wenig ist darüber bekannt, wie es den Kindern und Jugendlichen in Zeiten des Corona-Virus geht, in denen es jeweils nur einem Familienmitglied einen halben Tag pro Woche erlaubt ist, das Haus für Einkäufe zu verlassen. 

Claudia ist ein junges, arbeitendes Mädchen, welches durch die Quarantäne von ihren Eltern getrennt wurde. Nun versucht sie in dieser schwierigen Lage mit ihren Cousins zu überleben.

Niemand war vorbereitet

Mitarbeitende staatlicher Institutionen bestätigen, dass die Pandemie sie überrascht hat. Niemand war wirklich vorbereitet. Die städtischen Kinderrechtsbüros haben, wie auch die Nichtregierungsorganisationen, ihre Betreuungsarbeit stark reduzieren müssen. Die Transportmöglichkeiten des Personals staatlicher Betreuungseinrichtungen sind eingeschränkt. Behelfsweise werden Nottelefone eingerichtet. Elektronische Kommunikationswege wären nun dringend notwendig, um Kontakt zu den Familien halten zu können. Viele Organisationen erarbeiten Informationsmaterial zum Virus und zur Gewaltprävention für Eltern wie Kinder. Sie kritisieren die jüngst zur Entlastung der Gefängnisse angeordnete Amnestie für ältere Täter; darunter Menschen, die Kinder oder Frauen getötet haben oder denen sexuelle Gewalt an Kindern vorgeworfen wird. Diese sollten klar in Untersuchungshaft bleiben. 

Betreuungsangebote stark zurückgefahren

Psychologisches Fachpersonal der Sozialarbeit arbeitet nur tageweise. In Heimen für Kinder und Jugendliche sind nur einzelne Betreuungspersonen anwesend. Besuch von Familienangehörigen ist nicht erlaubt. Andere Einrichtungen, wie die für Kinder mit Behinderungen oder Autismus, haben ihren Betrieb eingestellt oder beraten die Familien über Telefon. Die Teambesprechungen finden nur noch über elektronische Medien statt.

«Wir versuchen per WhatsApp den Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen zu halten.»

Bei uns von Wiñay Pacha, wo sich auch die Comundo-Fachperson Florine Salzgeber gegen familiäre Gewalt einsetzt, ist dies nicht anders. Wir können psychologische Hilfe anbieten. Aber die geplanten Fortbildungsmassnahmen des von Comundo geförderten Projektes zu Gewaltpräventionsmassnahmen können derzeit nicht durchgeführt werden. Stattdessen erarbeiten wir elektronische Medien wie Filme, elektronische Leitfäden und eine Homepage, über die das Wissen auch in Zeiten der Quarantäne weitergegeben werden soll. Für uns aktuell entscheidend: Weiterhin über das Internet, vor allem per WhatsApp, Kontakt zu den Kinder- und Jugendgruppen halten. 

Zunahme von Gewalt, Rückgang von Anzeigen

Die Anzeigen von Gewalt an Kindern sind drastisch zurückgegangen. Trotzdem sind die meisten der Meinung, dass Misshandlungen in der Quarantäne vielmehr zugenommen haben. Dies insbesondere aus folgenden Gründen: 

  • Trotz Bonuszahlungen der Regierung sind die Einkommen gesunken, die Mietzinse müssen aber weiterhin entrichtet werden; dies erhöht den ökonomischen und psychischen Druck auf die Familien.
  • Viele Wohnungen sind beengt, was nicht nur die Gefahr von Infektionen erhöht, sondern auch von Übergriffen.   
  • Dort, wo es keinen Internetanschluss gibt, reduzieren sich auch die sozialen Kontakte mit anderen Familienangehörigen und der Nachbarschaft. Je länger die Quarantäne dauert, desto isolierter fühlen sich die Familien. 
  • Wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten, oder weil viele Kinder zu Hause jetzt mit den Eltern mitarbeiten, verlieren die Eltern ihre Rolle als Ernährer und damit an Autorität, was Konflikte birgt.
  • Ohne externe Hilfe sind Eltern mit der Betreuung von Kindern mit Behinderungen schnell überfordert, was zu weiterer Gewalt führen kann.

Hunger ist die erste Krise

Ärmere Familien haben weniger Möglichkeiten, die Coronakrise zu bewältigen. Und solange sie noch gesund sind, ist es für sie vor allem eine wirtschaftliche Krise. Nicht genug zu verdienen, um die Familie versorgen zu können, verursacht Stress. Bislang waren 12,7% der Kinder und Jugendlichen in Cochabamba selbst erwerbstätig. Viele haben durch die Quarantäne ihre Einkommensquelle verloren. Aber ein Teil von ihnen findet Alternativen. Manche verkaufen in ihren Vierteln Obst, Gemüse oder Reinigungsmittel, andere Eukalyptusblätter, um damit die Häuser zu desinfizieren. In der Karwoche war es Ginster. Und viele dieser Kinder tragen dabei – entgegen den Vorschriften – keinen Mundschutz. 

Randviertel leiden besonders stark

Kontrollen oder Unterstützungsmassnahmen sind für das Bürgermeisteramt und die Regionalregierung in den Randvierteln viel schwieriger. Dort leben über 80% der Menschen von informellen Tätigkeiten, die Kleinbauernfamilien vom Verkauf ihrer Produkte. Drei Kinder pro Familie sind die Regel, viele sind migriert und wohnen in einem oder zwei angemieteten Zimmern ohne die Möglichkeit, auf dem Grundstück selbst Gemüse anzubauen. Das Wasser wird mit Tankwagen einmal pro Woche gebracht und ist teurer als bei denen, die an das Trinkwassersystem angeschlossen sind. Es gibt keine Abwasserentsorgung. Kurzum das Leben birgt viele Risiken. 

Grosse Potentiale zur Krisenbewältigung

Wer kein Geld, keine Krankenversicherung, keine Gesundheitsstation in der Nähe hat, hat es auch schwerer, mit der Corona-Krise und möglichen Erkrankungen zurechtzukommen. Eine Rolle spielen aber auch der Organisationsgrad und das Ausmass der Empathie in der Familie und Nachbarschaft. Wir, die wir uns für sozialen Wandel engagieren, halten es für wichtig, nicht nur die Probleme zu sehen, sondern auch die eigenen Ressourcen der Familien, mit denen wir arbeiten können, um Verbesserungen zu erreichen.   

«Die Kleinen erinnern ihre Eltern immer wieder daran, den Empfehlungen der Behörden Folge zu leisten.»

In unserer Gesellschaft herrscht immer noch die Erwachsenenperspektive vor, Kinder seien schwach, abhängig und unreif. Und viele sehen deshalb nicht die Potentiale der Kinder und womit sie zur Bewältigung der Krise beitragen:

  • Durch sie wird in den Familien mehr kommuniziert. Sie sagen ihre Meinung und wie sie eine bestimmte Situation wahrnehmen.
  • Sie unterstützen die Eltern bei produktiven Tätigkeiten. Sie backen Brot, bereiten Getränke zu oder Teigtaschen zum Verkauf, sie passen auf den Verkaufsstand auf, verkaufen...etc. 
  • Sie kümmern sich um kleinere Geschwister und unterstützen deren Entwicklung, indem sie mit ihnen spielen und sprechen, sie geben ihnen zu essen und animieren sie. 
  • Sie verändern die Beziehungen zwischen den Eltern oder anderen Familienmitgliedern, indem sie dafür sorgen, dass auch mal gespielt und gelacht und nicht immer nur an die Krise gedacht wird. 
  • Die Jugendlichen, die Zugang zum Internet haben, helfen dabei, soziale Beziehungen nach aussen aufzubauen und aufrecht zu erhalten. 

Und immer wieder erinnern die Kleinen ihre Eltern daran, den Empfehlungen der Behörden zu folgen und auf ihre Gesundheit zu achten. Dies anzuerkennen und sie als aktive Mitglieder von Familie und Gesellschaft zu berücksichtigen, ist ganz wichtig in solchen Krisenzeiten. Doch in den privaten wie staatlichen Einrichtungen wird das kaum wahrgenommen. Gewiss, die Gefahr von Gewalt gegen Kinder wächst in Krisenzeiten und sie müssen geschützt werden. Aber die Art, wie das geschieht, darf die Kinder nicht wieder zu reinen Objekten der Fürsorge und staatlicher Massnahmen machen. Sollten wir nicht besser den Stimmen der Kinder und Jugendlichen bei der Formulierung der Notmassnahmen Gehör verschaffen?

Übersetzt aus dem Spanischen


 

Comundo-Fachperson Florine Salzgeber

Die Psychologin und Psychotherapeutin arbeitet seit diesem Jahr mit dem Blog-Autor Harold Albornoz bei Wiñay Pacha zusammen. Sie unterstützt die NGO dabei, die von ihr entwickelten Methoden im Bereich der Gewaltprävention und Opferbegleitung weiterzuverbreiten. Im Fokus steht der Einbezug von Kindern und Jugendlichen und die Verbreitung von Wissen zum richtigen Umgang mit Gewalt.

 

Informieren Sie sich jetzt über das Projekt von Florine Salzgeber und helfen Sie mit, armutsbetroffene Kinder vor Gewalt zu schützen.

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Die Fotos dieser arbeitenden Kinder während der Corona Krise sind von Lizeth Salazar von AVE-Audiovisuales Educativos. Die NRO begleitet die Organisation arbeitender Kinder in Cochabamba, der auch Claudia Meneses angehört.

Von Harold Albornoz | 27. April 2020 | Bolivien

 

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Harold Albornoz

Psychologe

Der Psychologe ist in Bolivien Universitätsdozent und arbeitet in der Nichregierungsorganisation Wiñay Pacha, einer Partnerorganisation von Comundo. Im Fokus seiner Arbeit steht u.a. die Entwicklung und die Verbreitung von gemeindenahen Methoden zur Prävention von Gewalt an Kinder.